Polnischer Drang nach Westen

In der Grenzstadt Stettin kehren sich die alten polnischen Ängste um. Immer mehr Polen kaufen heute Land und Häuser im nahen Deutschland. Sie sind jung, mobil und arbeiten in Stettin. Ihre Häuser aber kaufen sie seit Einführung der Schengenzone immer häufiger auf der deutschen Seite. Die Polen erobern Meklenburg-Vorpommern und Brandenburg.


Paul Flückiger, Szczecin/Stettin (2010)

Sie suchten eigentlich nur finanzierbaren Wohnraum. Heute lebt Dana Jesswein zusammen mit ihrem Mann im meklenburgischen Schwennenz, ein Kilometer von der Grenze entfernt. „Das Haus mit Umschwung konnten wir für den Preis einer Einzimmerwohnung im Stettiner Stadtzentrum kaufen“, schwärmt die junge Kulturanimatorin. Seit vier Jahren pendelt das Paar täglich nach Stettin (polnisch: Stettin). Nur 30 Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto. In Deutschland sind sie nur zum Schlafen.

Wie dem jungen Paar geht es Tausenden von Stettinern. Hier in Nordwestpolen verläuft die Staatsgrenze nicht mehr direkt entlang der Oder. Das Geschäftszentrum von Stettin mit seinen gut 500 000 Einwohnern liegt im Westen, die Oderbrücken sind ein Nadelöhr. Das alles spricht gegen die östlichen und damit polnischen Vororte. Seit Polens Schengenbeitritt Ende 2007 sind bis zu 2000 Familien in die grenznahen ostdeutschen Landkreise Uckermark (Brandenburg) und Uecker-Randow (Meklenburg-Vorpommern) umgezogen.

Die Kleinstadt Löcknitz, nur 24 Kilometer vom Stettiner Stadtzentrum entfernt, hat sich zu einem Zentrum der polnischen Umsiedler entwickelt. Zweisprachige Immobilienreklamen säumen den Weg dorthin durch malerische ostdeutsche Dörfer am Ende der Welt. Manche Hausbesitzer verzichteten gar ganz auf deutsche Angebote, lacht der Immobilienhändler Radoslaw Popiela, der seit drei Jahren 500 Meter von der Grenze auf deutschem Boden lebt. Seit deutsche Banken 2010 begonnen hätten, auch Kredite an Polen zu vergeben, die nicht in Deutschland arbeiteten, erlebe er einen wahren Boom. „Die Zinsen finanzieren sich mit dem deutschen Kindergeld“, wirbt Popiela.

Abwanderung und Überalterung gehörten zu seinen Hauptproblemen, sagt der stellvertretende Löcknitzer Bürgermeister Horst Heiser. „Die Polen sind eine grosse Chance für uns“, betont er. Dank den Neuzuzügern aus Stettin habe man das Gymnasium erhalten können und nun könne gar ein neuer Kindergarten gebaut werden. Heiser gibt offen zu, dass die meisten der 3200 Einwohner anfangs skeptisch waren. „Heute haben wir gar polnische Unternehmer hier“, freut sich der frühere DDR-Firmenchef (VEB Bauelementewerk Löcknitz). Ein polnischer Elektroniker und ein Gewürzhersteller haben Dutzende neue Arbeitsplätze geschaffen.

Die Skepsis von Anfang an miterlebt hat Renata Stachewicz. „Als wir 2008 hier unser Haus bauten, begannen die Löcknitzer plötzlich ihre Velos abzuschliessen“, sagt die Inhaberin des Gardinenladens. Doch heute lebten viele Polen in ihrem Quartier und niemand schliesse seine Velos ab. „Wir schauen immer auf die deutschen Nachbarn und machen es so, wie sie“, erzählt die Polin. Nur eines gelinge ihr nicht: So pessimistisch wie die Deutschen zu werden. „Wir Polen bringen Vitalität nach Löcknitz; wir wollen arbeiten und etwas erreichen“, lacht die Geschäftsfrau.

In Gesprächen mit den Alteingesessenen ist kein böses Wort über die rund 300 Polen in Löcknitz zu hören. Dennoch hatte sich die mit polenfeindlichen Ressentiments operierende rechtsextreme NPD im Sommer 2009 2 von 14 Sitzen im Gemeinderat erobert. Dies sorgte vor allem in Berlin und Warschau für viel Aufregung. Im Gemeindehaus wurde daraufhin eine zweisprachige Beratungsstelle einrichtet. Vor allem polnische Umsiedler suchen dort Rat bei Sprachproblemen und Behördenkontakt. Der polnische Nachbar wische das Trottoir vor seinem Haus nicht, klagte unlängst ein Deutscher. Die beiden Beraterinnen vermittelten.

Der Bäcker des nahen Dorfes Bismark, wo bereits ein Drittel der rund 100 Einwohner Polen sind, ist dagegen dazu übergegangen, seine Brote zweisprachig anzuschreiben. Die Fahrt von Bismark zurück nach Stettin zeigt eine weitere Grenzverwischung. Die Einwohner haben einfach alte Feldwege wieder in Betrieb genommen. Am einstigen Fussgängerübergang zwischen Buk und Blankensee wurden nachts kurzerhand die Metallgitter abgetrennt. Der Weg ist damit für Autopendler nach Stettin wieder passierbar.

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