An der polnisch-russischen Grenze leben mehr Störche als Mensche. Żywkowo, heisst das Storchendorf im Norden Polens, in der Wojwodschaft Ermland-Masuren.   
Paul Flückiger, Żywkowo
Plötzlich endet die alleengesäumte Landstrasse. „Staatsgrenze“ heisst es auf einer Tafel, ein Fahrverbotschild prangt daneben. Davon unbeeindruckt stolziert ein Storch im Regen über den Asphalt, hält am Strassenrand und macht wieder kehrt. Hier endet Polen, ein halber Kilometer nördlich beginnt die Oblast Kaliningrad (dt. Königsberg) und damit Russland. Nur noch links abbiegen geht, nach Zywkowo, dem Ort mit der grössten Storchendichte in Polen. Zwischen Kühen und kleinwüchsigen Pferden gehen die Gefiederten, zwei Tümpel neben der Landstrasse geben ihnen auf der polnischen Seite ein ideales Jagdrevier ab.
Neun Gehöfte mit insgesamt 23 Einwohnern, dazu aber über 40 Storchennester haben dem Ort 13 Kilometer nördlich von Gorowo Ilawiecki (Landsberg/Ostpreussen) selbst auf Landkarten den Zusatz „Storchendorf“ eingebracht. Begonnen hatte alles in den Siebzigerjahren, wie Wladyslaw Andrejew, der einstige Dorfvorsteher unter dem Klappern der Störche direkt in seinem Garten erzählt. Früher hätten in den die Nachbardörfern weit mehr Störche als in Zywkowo genistet, doch dann habe die realsozialistische Regierung Gierek dort neue staatliche Grossfarmen errichtet. „Die Störche flohen zu uns nach Zywkowo“, erinnert sich Andrejew, dessen Eltern von den Kommunisten kurz nach dem Krieg aus dem südostpolnischen Bieszczady-Gebirge ins bis 1945 mehrheitlich von Deutschen besiedelte Ermland zwangsumgesiedelt wurden. Wie die Mehrheit der Einwohner ist Andrejew Ukrainer. Dies wurde ihm ebenso zum Verhängnis wie den Störchen die intensive Landwirtschaft.
Andrejew, der Storchenkönig
In Żywkowo ganz am Rande Polens finden die Störche jedoch seit über 30 
Jahren beiderseits der Grenze reiche Kost an Weichtieren und Mäusen. 
Laut Andrejew, der oft an die inzwischen für die Lokalbevölkerung  
geschlossene Grenze zum Fischen fährt, fliegen die Gefiederten den 
ganzen Tag lang hin und zurück, wie es ihnen gefällt. „Die Hälfte kommt 
aus Polen, die andere aus Russland“, lacht er. Die menschenleeren 
feuchten Brachflächen auf der russischen Seite der  Grenze seien eben 
gute Speisesäle, scherzt man im Dorf. Für die Menschen indes endet die Reise am rostigen Schlagbaum 500 Meter nördlich des Dorfes.
Storch statt Adler als polnisches Wappentier
„Nur den Störchen haben sie das Dauervisum noch nicht gestrichen“, klagt ein Einwohner bitter. Die Störche seien die nächsten Verwandten der Menschen, findet dagegen Andrejew, der sich als Ukrainer seit drei Jahren sowieso nicht mehr nach Russland traut. „Sie bekriegen sich und nehmen einander die Nester weg, manchmal gar die Frauen“, erklärt er bei Kaffee und Kuchen in seiner Küche. Andrejew ist der Vorreiter des heute im Rahmen des EU-Programms „Natura 2000“ bezuschussten Storchendorfes, das den bekanntesten Teil der Vogelrückzugszone der Wojwodschaft Ermland-Masuren bildet.
Andrejew
 war bereits Polens Storchenkönig als noch niemand von einem Beitritt 
zur Europäischen Union zu träumen wagte. Bereits in den Achtzigerjahren 
errichtete er auf seinem Hof erste Plattformen  für den majestätischen 
Stelzvogel. „Ich hatte eine schwere Kindheit und kann seither Gewalt 
nicht ausstehen“, begründet er seinen Einsatz für die Gefiederten. Als 
die neu zugeflogenen Störche um die Nester kämpften, habe er 
einschreiten müssen. „Ich wollte  den Störchen helfen, wollte Frieden 
stiften“, sagt der heutige Rentner. Mit der Leiter sei er nachts auf die
 Bäume geklettert und habe zusammengebundene Zweige zum Nestbau 
deponiert. „Das Dorf lachte nur“, erinnert er sich bitter. 
Inzwischen
 haben von den 118 Einwohnern des Jahres 1983 fast Hundert das Weite 
gesucht. Die Jungen sind in die Stadt oder ins Ausland gezogen. Doch wer
 blieb, lebt heute auch dank der Störche.  Der grösste 
Agrartourismusbetrieb ist zwar zum Verkauf ausgeschrieben, doch Findige 
unter den verbliebenen zwei Dutzend Einwohnern bieten Ornithologen und 
Touristen Ersatzunterkünfte an. Neben einem grossen Werbeschild mit zwei
 Plastikstörchen wird eine einfache  Unterkunft in einem kleinen 
Holzhaus angeboten, auch beim Dorfvorsteher kann man übernachten. 
Jeder vierte Storch ist ein "Pole"
Seinen Hof hat Storchenkönig Andrejew vor etlichen Jahren seinem Nachfolger aus der Stadt abgegeben. Der aus dem zentralpolnischen Lodz (Lodsch) ans Ende Polens umgezogene Adam Lopuszynski führt ihn für den Polnischen Vogelschutzbund weiter, der im ganzen Gebiet traditionell geführte Landwirtschaftsflächen und Feuchtgebiete pachtet, um dem Weiss- und Schwarzstorch, Seeadler und Rohrdommel zu helfen. Fast die Hälfte der heuer 46 Storchenpaare und ihrer insgesamt 80 Jungstörche nisten auf dem Land des Vogelschützers. Zum Glück sei dieses Storchenjahr besser als das Vorjahr, freut sich Lopuszanski. 2015 hatten kalte Winde im Frühling die Ankunft der Störche in Zywkowo verzögert; viele entschieden sich der Folge nicht mehr für Nachwuchs.
Die
 Einwohner von Zywkowo leben mit den Störchen auch in enger emotionaler 
Symbiose. Diese Jahr seien zwei Storchenkinder von ihren Eltern aus dem 
Nest geschmissen worden und verendet, erzählt  etwa Andrejew. „Die Natur
 ist hart“, sagt er und schweigt nachdenklich. Doch alsbald heitert sich
 das tief zerfurchte Gesicht des ältesten männlichen Einwohners von 
Zywkowo wieder auf. „Zum ersten Mal in meinem Leben durfte ich heuer 
erleben, dass sich zwei  Storchenfamilien zusammen getan haben“, erzählt
 er und strahlt. Vier Störche hätten zusammen in einem Nest fünf 
Jungstörche aufgezogen, schwärmt Andrejew. 
Dass
 das polnische Zywkowo an der Grenze zum russischen Oblast Kaliningrad 
den Störchen besonders gut gesinnt ist, scheint sich auch bei den 
Storchen-Singles herumgesprochen zu haben. Fast 200  von ihnen haben 
laut Andrejew dieses Jahr Zywkowo zu ihrer Sommerheim erkoren. „Damit 
haben wir total über 350 Störche hier“, rechnet Polens Storchenkönig 
stolz vor. 
Fot. M. Graczyk






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